Chapter 17

„Tom! Was machst du denn hier?“
„Hey. Stör ich? Kann ich kurz reinkommen?“ Tom stand unten vor der Haustür. Er war sichtlich mitgenommen von den Ereignissen des Tages.
„Natürlich.“ Ich drückte auf den Türöffner und ließ ihn herein. Während ich darauf wartete, dass Tom die Treppe hoch kam, sah ich an mir herunter. Na ja, besuchertauglich war mein Outfit nicht gerade, aber es war auch schon spät. Tom nahm die letzten Stufen und kam auf mich zu.
„Hey. Du bist ja noch spät unterwegs.“
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht stören.“ Er zögerte. „Ich hätte nicht herkommen sollen. Du willst sicher schlafen. Tut mir leid.“ Er wandte sich zum Gehen.
„So war das nicht gemeint“, ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Komm rein. Du hattest einen anstrengenden Tag, da kann ich auch mal ein Stündchen später ins Bett gehen.“ Ich lächelte ihn an.
„Okay.“
Tom ging an mir vorbei in den Flur. Ich roch, dass er bereits das ein oder andere Bier getrunken hatte. Er tat mir leid. Der Tag musste sehr schwer für ihn gewesen sein. So eine emotionale Belastung glich einer sportlichen Höchstleistung. Am Ende des Tages war man am Ende. Alles tat weh, die Tränen waren aufgebraucht. Ich war aber auch neugierig, was ihn hergetrieben hatte. Er hätte sicher auch zu Freunden gehen können oder bei seiner Familie Trost gefunden.
„Komm rein. Möchtest du etwas trinken? Ich hab nicht viel da. Saft und Wasser … und Wein.“ Tom ging ins Wohnzimmer, stellte sich an die offene Balkontür und sah in die Dunkelheit hinaus.
„Wasser wäre gut. Danke.“
Ich holte zwei Gläser aus der Küche, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich schenkte uns ein und setzte mich auf die Couch. Tom stand in Gedanken versunken am Balkon. Nach ein paar Minuten drehte er sich um und setzte sich ebenfalls auf die Couch. Er sah müde aus, erschöpft. Seine Augenringe verrieten, dass es ein langer Tag gewesen war. Niedergeschlagen und tieftraurig sah er mich an. Es war schwer einen guten Freund so leiden zu sehen. Ich konnte nichts weiter tun als für ihn da zu sein, aber das fiel mir nicht leicht. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeiten, als meine Familie mit der Trauer um ein Familienmitglied kämpfte. Jeder auf seine Weise. Es war immer anders, aber immer intensiv und schmerzhaft. Und so abgedroschen es klang, doch nur die Zeit half, wieder die schönen Seiten des Lebens zu sehen. Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg.
Es brannte mir auf der Zunge zu fragen, warum Tom hier war, aber ich wusste nicht, ob das gut war. Schweigend sahen wir zu, wie die Bläschen im Wasser am Glas nach oben trieben.
„Danke, dass ihr heute Nachmittag da gewesen seid.“ Tom sah weiterhin mit leerem Blick auf sein Wasserglas.
„Dafür musst du dich nicht bedanken.“ Ich sah ihn an, studierte seinen Blick, den Kummer in seinen Augen.
„Es ist ein schöner Platz für die letzte Ruhe.“ Tom war so spät zu mir gekommen um zu reden, doch es war schwer, ein Gespräch in Gang zu bringen. Ich fühlte mich unsicher.
„Ja, das stimmt. Er mochte den Park.“ Wieder trat eine Pause ein. Ich griff nach meinem Glas und trank einen Schluck.
„Es waren viele Leute da. Dein Opa scheint sehr beliebt gewesen zu sein.“ Tom nickte.
„Wie geht es denn deiner Oma. Kommt sie zurecht?“ Ich traute mich kaum zu fragen.
Tom seufzte. „Sie hält sich tapfer. Heute war es natürlich noch mal sehr schlimm. Die Feier danach war anstrengend für sie. Sie ist jetzt bei meiner Ma und hat ein Beruhigungsmittel genommen. Die nächsten Wochen müssen wir das Haus verkaufen, ausräumen und ihr eine kleine Wohnung in der Nähe suchen. Das wird auch schwer werden. Aber es hilft ja nichts.“ Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und rieb sich die Augen mit den Handflächen. Er seufzte.
„Habt ihr jemanden, der euch dabei unterstützt?“
„Nein. Wir müssen das irgendwie alleine machen. Das wird schon. Aber der meiste Kram wird wohl an mir hängen bleiben. Meine Ma kümmert sich um Oma. Wir haben ein bisschen Angst, dass sie sich jetzt hängen lässt. Da muss ich mich um die organisatorischen Dinge kümmern.“
„Ach Tom. Ich würde dir gern irgendwie helfen, aber das Chaos kann ich dir wohl nicht abnehmen.“
Tom lächelte. „Hey, ich darf mitten in der Nacht bei dir auf der Couch sitzen und dir die Ohren voll jammern.“
„Stimmt“, ich musste auch lachen. „Das ist eine wirkliche Glanzleistung von mir!“
„Sady, kann ich vielleicht doch einen Wein bekommen?“
„Klar.“ Froh, dass die Stimmung sich ein bisschen entspannt hatte, holte ich den Wein und ein weiteres Glas für Tom.
„Danke. Jetzt plündere ich auch noch deinen Alkoholvorrat.“
„Frechheit, Herr Kollege!“ Ich schüttelte lachend den Kopf. Vielleicht konnte ich Tom etwas ablenken von seinem Kummer, zumindest für kurze Zeit. Das würde ihm gut tun. Morgen im Büro würde ich das zwar bereuen, wenn mir der Kopf dröhnte und meine Augen vor Müdigkeit brannten, aber sei es drum.
Tom erkundigte sich nach der Agentur. Ich berichtete was momentan so auf dem Tisch lag, wie der aktuelle Stand unserer Projekte war und beruhigte ihn, dass sein Tisch noch nicht kurz vor dem Kollaps stand. Er fragte nach meinem Urlaub und ich schwelgte in Gedanken, holte Sonne, Strand, Meer, gutes Essen und viel Erholung in die dunkle Nacht zurück.
Ich öffnete eine weitere Flasche Wein. Inzwischen war es fast halb zwei. Tom hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Sein Kopf lag auf dem großen Kissen an der Rückenlehne, die Beine entspannt ausgestreckt.
„Tom …“, ich hielt kurz inne, „darf ich dich was fragen?“
„Klar.“
„Aber nicht falsch verstehen, ja?“
„Okay.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Hmm … warum bist du eigentlich heute Abend vorbei gekommen?“
Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Die Entspannung wie weggeblasen. Mist!
„Sorry, ich weiß es ist spät.“ Tom setzte sich auf, stellte sein Weinglas ab.
„Hey, ich hab doch gesagt, nicht falsch verstehen! Ich bin nur neugierig. Du kannst bleiben so lange du willst.“
Tom atmete hörbar aus und ließ sich wieder nach hinten sinken. Ich sah ihn an, er schien weit weg zu sein. Toll, Sady! Prima gemacht!
„Ich musste einfach mal raus. Jemanden sehen, der nichts mit dem ganzen Scheiß zu tun hat.“ Er griff zum Glas und leerte es in einem Zug. War das Zorn, der anfing sich in seinen Blick zu schleichen?
Ich antwortete nicht. Wartete, dass er weiter erzählte. Als ich dachte, es käme nichts mehr, fuhr er fort. „Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Eine Last, die mich immer weiter nach unten drückt, die jeden Schritt und jeden Atemzug schwer werden lässt.“ Er sah mich an. „Verstehst du das?“
„Ja, sehr gut sogar.“
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal für ein paar Minuten nicht an den Tod und die ganze Situation denke sondern auch mal lache. Aber, hey! Mein Leben geht weiter. Ist das denn so schlimm? Ja, ich vermisse ihn und ja, ich habe Verständnis dafür, dass andere anders damit umgehen.“ Er war jetzt aufgestanden und lief wie ein Tiger im Käfig umher.
„Du musst damit umgehen, wie es für dich richtig ist. Da gibt es kein Falsch oder Richtig.“
„Das sagst du! Ich kann auch nicht alles regeln und nur noch für die Familie da sein! Und am Liebsten noch den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und alte Geschichten durchkauen. Zum tausendsten Mal! Davon kommt er auch nicht zurück.“
„Tom, beruhige dich. Vielleicht ist das der richtige Weg für deine Familie damit umzugehen. Sie merken nicht, dass dir das nicht gut tut.“
„Ach, ich soll also Verständnis haben, ja?“ Tom war laut geworden. „Ich habe immer Verständnis. Immer!“
„Aber Bee hat doch sicher Verständnis für dich.“ Tom funkelte mich böse an.
„Ja, hat sie“, sagte er scharf. „Von ihrem Hotelzimmer in Frankfurt aus hat sie riesiges Verständnis für mich!“ Ich sah ihn verblüfft an.
„Was macht sie denn in Frankfurt?“
„Sie hat ein wichtiges Seminar. Das man unmöglich absagen kann, nicht mal dann, wenn man einen Trauerfall in der Familie hat!“ Das erklärte natürlich einiges.
„Tom. Ich verstehe ja, dass du sauer bist. Aber vielleicht ging es wirklich nicht anders.“
„Ach, ich bitte dich! Da erwarte ich ein einziges Mal, dass sie etwas für mich tut und dann kann sie nicht mal dieses Seminar absagen! Was muss denn noch passieren, bis ihr Privatleben Vorrang hat?“
Ich sagte nichts dazu. Tom stand wieder an der offenen Balkontür und starrte hinaus. Ich sah, wie Wut und Zorn verblassten. Er rieb sich den Nasenrücken und seine Schultern fingen an zu zucken.
Ich stand auf und ging zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das war es also gewesen. Er musste raus, brauchte jemanden, der für ihn da ist, der ihn mit seiner Trauer auffängt. Und der Mensch, von dem er das erwartet hatte, zog die Arbeit vor und war viele Hundert Kilometer weit weg in einem Hotel.
„Tom. Ist schon gut. Komm mal her.“ Tom drehte sich zu mir um. Tränen liefen ihm über das Gesicht, seine Augen waren tief schwarz. Es tat mir leid, ihn so verloren und erschöpft zu sehen.
„Es ist okay, dass du wütend bist.“ Eine dicke Träne saß an seinen Wimpern, löste sich und verschmolz mit den anderen auf seiner Wange.
„Komm, setzt dich wieder auf die Couch.“ Tom folgte mir wie ein trauriges kleines Kind, ließ sich auf die Couch fallen und verbarg sein Gesicht in den Händen. Ich setzte mich neben ihn, zog die Beine auf die Couch und lehnte mich zurück. Tom ließ sich zur Seite rutschen, so dass sein Kopf auf meinem Schoß landete.
„Ich bin so müde, weißt du? Ich vermisse ihn auch, sehr sogar. Aber ich bin auch froh, dass es vorbei ist und er nicht mehr leiden muss.“ Ich spürte wie warm sein Gesicht von den Tränen war. „Manchmal ist es alles zu viel. Jeder denkt, er kann seinen Mist bei mir abladen. Tom schafft das schon.“ Seine Stimme war rau und kraftlos. Ich strich ihm durch sein dunkles Haar. Es war ganz durcheinander. Wir saßen eine Weile so da, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Ich musste eingeschlafen sein. Als ich aufwachte saß Tom neben mir und sah mich an, lehnte sich in die Kissen, den Arm auf der Rücklehne, den Kopf mit der Hand gestützt.
„Sorry, ich bin wohl eingenickt.“
Tom sagte nichts, sah mich nur an. Strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Er wirkte immer noch traurig, aber ruhig und ohne Zorn. Ganz friedlich.
Dann beugte er sich vor und küsste mich.

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