Chapter 23

Ich hatte beschlossen, die erste Woche ausschließlich Urlaub zu machen und mir verboten, auch nur einen Gedanken an die Agentur zu verschwenden. Während Paula lange Dienste im Krankenhaus schob und danach halbtot ins Bett fiel, entdeckte ich die Stadt für mich neu. Ich schlenderte durch die vielen kleinen Läden in Covent Garden, erkundete, was in den Seitenstraßen Richtung Leicester Square an Geschäften neu hinzugekommen war. Spazierte stundenlang mit einem Coffee to go an der Themse entlang, stöberte durch Buchläden, beobachtete Leute.
Gegen Ende der Woche merkte ich, wie langsam eine Last von mir abfiel. Ich hatte das Gefühl, wieder Luft zu bekommen, freier denken zu können. London gefiel mir nach wie vor sehr gut. Ich erinnerte mich, wie ich bereits vor 8 Jahren darüber nachgedacht hatte, noch einmal hierher zu kommen, für länger. Hier zu wohnen, zu arbeiten. Vielleicht für zwei, drei Jahre. Ich fühlte mich wohl, mochte die Menschen, das Pulsieren der Stadt.
Als ich am Freitag aufstand regnete es. Ich kochte mir einen starken Tee, goss Milch dazu und wartete darauf, dass mein Toast goldgelb wieder aus dem antiken Gerät, das in der Küche stand, zum Vorschein kam. Kurz vor elf machte ich mich auf dem Weg zur National Gallery. Ich mochte dieses Museum sehr gerne und es gehörte zu jedem Londonbesuch dazu, dort einmal hineinzuschauen. Auch wenn ich manches Mal nur eine Stunde Zeit dafür hatte, kurz zwischen den Gemälden bekannter Maler zu wandeln, das Chaos der Stadt draußen lassen und wieder runter kommen. Das Wetter war heute perfekt dafür.

Als ich gegen vier so langsam Hunger verspürte, holte ich meine Tasche an der Garderobe ab und verließ das Museum. Der Himmel war nicht mehr ganz so grau und hier und da blitzte die Oktobersonne durch die Wolken. Ich machte mich auf die Suche nach einem kleinen Café. Am Abend war ich mit Paula zum Essen verabredet. Wir hatten nicht viel von einander gesehen die letzten Tage und ich hatte den Eindruck, dass Paula sich Sorgen machte. Ich hatte bisher nicht viel von der Situation in der Agentur erzählt. Die zwei Abende, die wir bisher ausgiebig geklönt hatten, habe ich sie über ihren neuen Job ausgefragt und ihr von meinen Londoner Lieblingsplätzen und der Zeit hier vor 8 Jahren berichtet. Vermutlich dachte sie, ich würde jetzt bei der vielen Zeit allein ganz trübsinnig werden. Zum Glück hatte London seinen Charme versprüht und mich ganz darin eingepackt, so dass es mir tatsächlich wesentlich besser ging.
Ich kam an einem Café vorbei, das einen direkten Blick auf die Themse hatte. Es war noch ein Tisch in der Sonne frei, die inzwischen von einem strahlend blauen Himmel lachte. Es überraschte mich immer wieder, wie schnell hier doch das Wetter umschlug. Ich setzte mich und bestellte einen Latte Macchiato und dazu Scones mit clotted cream und strawberry jam. Wie ich das liebte! Ich holte ein Buch, das ich gestern bei Waterstones gekauft hatte, aus der Tasche und genoss die warme Herbstsonne.
„Entschuldigung, stört es Sie, wenn ich mich dazu setze?“ Ich blickte auf. Vor mir stand ein gutaussehender Mann Mitte dreißig. Er trug Anzug, wie fast alle hier in der Gegend.
„Nein, ganz und gar nicht.“
„Vielen Dank. Ich möchte Sie auch gar nicht stören, Sie haben nur den schönsten Sonnenplatz erwischt.“ Er lächelte mich an.
„Das stimmt. Das muss man genießen, so lange sie noch scheint.“
Die Bedienung brachte meinen Kaffee und der Herr bestellte ebenfalls einen.
„Sind Sie von hier?“
„Nein, ich bin nur zu Besuch, aber ich habe bereits längere Zeit hier gewohnt. Ich liebe London.“
Er musste lachen. „Das hört man oft. Sind Sie beruflich hier?“
„Nein, eigentlich nicht. … Aber wer weiß, was sich ergibt.“
„Ah, ich verstehe. Auf der Suche nach einer Veränderung?“
„Ja, irgendwie schon. Und Sie, arbeiten Sie hier?“
„Ja, ich arbeite in einer Bank hier in der Nähe. Ich komme öfter hier her auf einen Kaffee. Und da gerade die Sonne so schön schien …“
Die Bedienung brachte den zweiten Kaffee.
„Entschuldigen Sie, wie unhöflich! Ich quetsche Sie hier aus und habe mich noch gar nicht vorgestellt! Ich bin Jeremy.“
„Hi Jeremy. Ich bin Sady.“ Wir mussten lachen.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Sady.“
Wir plauderten eine Weile ganz allgemein über London, die Leute hier, bis wir wieder zum Grund meines Londonbesuchs kamen.
„Und jetzt bist du wieder hier, in London. Und machst Urlaub?“
„Ja, so in etwa. Die letzten Wochen waren sehr chaotisch und ich glaube, die meine Tage in der Agentur sind gezählt. Nicht dass ich mit einer Kündigung rechnen muss, aber irgendwie stecke ich fest. Ich denke nicht, dass ich dort bleiben möchte.“ Ich war selbst etwas überrascht, dass sich der Gedanke so formiert hatte. Eigentlich stand es jetzt fest. Ich wollte etwas anderes, einen neuen Weg einschlagen. Aber wohin sollte der mich führen?
„Und jetzt lässt du dir hier frischen Wind um die Nase wehen und überlegst, was du machen willst?“
„So in etwa, ja.“
„Und, schon eine Idee in welche Richtung es gehen soll? Willst du dir eine neue Agentur suchen?“
„Ich habe keine Ahnung. Ganz ehrlich! Ich weiß es einfach nicht. Das wäre natürlich der einfachste Weg, mir einfach einen neuen Job in einer anderen Agentur suchen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das will. Ich hatte mal überlegt, mich selbständig zu machen. Aber ich weiß nicht so recht.“
„Mit einer eigenen Agentur?“
„Nein, eher nicht. Ich hatte mal darüber nachgedacht, in die kreative Richtung zu gehen. Inneneinrichtung im weitesten Sinne. Hilfe für jedermann, wenn man ein Zimmer aufpeppen will, aber nur einen kleinen Geldbeutel hat. Mit Farbe, neuen Stoffen, neuer Dekoration. Sowas in der Richtung.“
„Hört sich interessant an. Die Grundidee ist doch ganz gut. Du müsstest die Idee natürlich verdichten und dir überlegen, ob das wirklich etwas ist, mit dem du den ganzen Tag verbringen möchtest.“
„So genau hab ich mir darüber bisher noch keine Gedanken gemacht.“
„Aber dafür bist du ja jetzt hier. Lass dich inspirieren. Und wenn du am Ende die Idee verwirfst, bist du ja auch einen Schritt weiter.“
„Stimmt. So hab ich das noch gar nicht gesehen.“ Ich lächelte ihn an. „Unglaublich, dass ich dir das alles erzähle! Ich meine, wir kennen uns überhaupt nicht! Ich will dich damit nicht langweilen.“
„Oh entschuldige! Ich wollte auch gar nicht so neugierig sein.“ Wie konnte ich nur vergessen, dass Engländer sich so oft entschuldigen? Ich musste lachen.
„Hey, keine Sorge. War ja nichts Geheimes oder so.“
Ich blickte auf die Uhr. Es war bereits nach sechs.
„Oh, ich muss los! Wir haben uns ganz schön verquatscht!“
„Oh, allerdings. Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgehalten?“
„Nein, aber ich bin mit einer Freundin verabredet und da sollte ich mich jetzt auf den Weg machen. Hier dauert es ja bekanntlich etwas länger um von A nach B zu kommen.“
„Das stimmt. Sady, es war sehr nett mit dir hier in der Sonne zu sitzen … auch wenn die sich inzwischen hinter dicken Regenwolken verkrochen hat. Ich würde mich freuen, wenn wir uns mal wieder auf einen Kaffee treffen.“
„Sehr gerne. Ich bin ja noch zwei Wochen hier.“
Jeremy gab mir seine Visitenkarte.
„Da steht alles drauf was du wissen musst. Melde dich einfach, wenn es dir passt.“
„Das mach ich!“
Wir gingen noch gemeinsam zur U-Bahn und verabschiedeten uns. Ich war immer wieder überrascht, wie schnell man hier doch Leute kennenlernte. So etwas war mir in Deutschland noch nie passiert. Vielleicht lag es aber auch an mir. Im Ausland war ich selbst auch offener als in der Alltagshektik zu Hause.

Als ich bei Paula ankam, war sie bereits von ihrer Schicht zurück.
„Hey, da bist du ja! Na, einen schönen Tag gehabt?“
„Ja, auf jeden Fall. Und du? Du siehst ganz schön fertig aus.“
„Das bin ich auch. Aber ich sterbe vor Hunger. Wollen wir gleich los? Ich in der Nähe ist ein netter Pub. Da kann man total lecker essen.“
„Dann müssen wir da jetzt sofort hin. Ich hab auch riesigen Hunger.“
„Super, dann kannst du auch von deiner Woche berichten. Tut mir leid, dass ich so wenig Zeit habe.“
„Aber das ist doch kein Problem! Das wusste ich ja vorher.“
Wir zogen unsere Jacken an, nahmen einen großen Schirm mit – es hatte inzwischen wieder zu regnen begonnen – und machten uns auf den Weg Richtung Pub.
Dort angekommen war es wirklich gemütlich. Es war fast wie in einem alten Wohnzimmer. Überall standen gemütliche Sofas und Sessel, an den Wänden hingen Bilder mit Jagdszenen und im Kamin prasselte ein künstliches Feuer. Selbst der Boden war mit einem alten großen Teppich bedeckt.
Wir bestellten deftiges Essen und dazu ein Glas Rotwein.
„Was hast du denn heute so gemacht? Das Wetter war ja nicht so toll.“
„Erst war ich in der National Gallery und danach noch in einem netten Café an der Themse.“
„Oh, du bist ein Museumsgänger?“
„Na ja, eigentlich nicht so unbedingt. Aber die National Gallery hat es mir angetan. Ich geh da gerne rein. Manchmal sitze ich da auch einfach nur in einem großen Raum mit tollen Bildern und beobachte die Leute. Zum Glück kostet der Eintritt nichts, dann kann man das ja öfter tun.“
„Das stimmt. Die Zeit hatte ich noch gar nicht, mir so etwas anzusehen. Aber es ist vermerkt, National Gallery ist sehenswert.“
„Unbedingt. Und in dem Café hab ich einen netten Mann kennengelernt – Jeremy Collins, Banker, Mitte dreißig.“
Paula grinste.
„Ach?! Und? Seht ihr euch wieder?“
Ich grinste zurück.
„Ich denke schon. Aber eigentlich hab ich in der Richtung momentan gar kein Interesse. Das war die letzten Wochen alles turbulent genug. Aber nett war er, das muss ich ja zugeben.“
„Und sah er gut aus?“
„Du nun wieder! Aber ja, er war nicht unattraktiv.“
„Du hast ja noch zwei Wochen hier. Mal sehen, was draus wird.“
Ich gab ihr einen Klaps aufs Bein.
„Hör auf! Da wird gar nichts draus! Er war einfach nur nett. Ok?! NETT.“
„Ja, ist ja schon gut“, Paula lachte, „Ich hab’s verstanden.“

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