Chapter 29

Der Abend war erstaunlich mild für Ende Oktober. Sam begleitete mich zur Vernissage von Jeremys Freund James. Josh hatte nicht so sehr Lust auf Kultur und verbrachte den Abend stattdessen mit seinen Jungs. Paula musste leider arbeiten, würde aber vielleicht später noch zu uns stoßen. Sam und ich hatten uns fein herausgeputzt, schließlich war man nicht jeden Tag zu der Eröffnung einer Ausstellung eingeladen.
„Oh, sieh mal! Da vorn muss es sein.“ Sam zeigte die Straße hinunter. An der nächsten Kreuzung waren an einem Eckhaus zwei große Fenster elegant erleuchtet. Ein paar Leute standen davor und unterhielten sich. Wir gingen auf die kleine Galerie zu und gesellten uns zu den Gästen vor der Tür. Ich versuchte Jeremy und seine Freunde zu erspähen, konnte sie aber nirgends entdecken.
„Sam, wollen wir vielleicht schon hinein gehen? Das ist mir dann doch zu frisch hier draußen.“
„Klar, gerne. Wir dürften ja auf der Liste stehen.“
Wir wurden ohne Probleme hineingelassen und mit einem Glas Prosecco begrüßt.
„Sag mal, kennst du diesen James eigentlich?“
„Nein, noch nie gesehen. Ich kann dir also nicht mal sagen, ob der Star des Abends bereits anwesend ist.“
„Macht ja nix.“ Wir prosteten uns zu. „Auf einen schönen Abend.“
Während wir uns umsahen und auf Jeremy warteten, beobachtete ich die verschiedenen Gäste. Alle waren elegant gekleidet. Nur wenige Männer waren in Jeans gekommen, die meisten trugen Anzug und Hemd, aber leger geknöpft ohne Krawatte. Die Damen hatten sich in feine Stoffe gehüllt, viele trugen Kleider. Der Londoner Großstadt-Chic gefiel mir gut.
„Meinst du, es sind auch bekannte Leute hier?“ Auch Sam beobachtete die eintreffenden Gäste.
„Prominente?“
„Ja?“
„Keine Ahnung. Schon möglich. Aber ich weiß nicht, ob Jeremys Freunde in solchen Kreise verkehren oder ob das üblich ist, so jemanden einzuladen. Aber Presse ist vielleicht da.“
„Das kann gut sein.“
„Lokale Sternchen würde ich mit Sicherheit gar nicht erkennen. Das ging mir schon früher so. Dafür sehe ich zu wenig britisches Fernsehen.“
„Ich sag dir Bescheid, wenn plötzlich DER britische Shootingstar neben dir auftaucht.“
„Danke.“ Wir mussten lachen. „Ah, da kommt Jeremy.“
Auch Jeremy hatte uns entdeckt.
„Hey Ladies! Ihr seht bezaubernd aus!“ begrüßte er uns und küsste uns auf die Wange.
„Habt ihr James schon gesehen?“
„Wir kennen ihn doch gar nicht!“
„Oh, das hab ich ja ganz vergessen. Dann sollten wir euch aber schnell bekannt machen. Wer weiß, vielleicht ist er morgen schon der neue Star am Fotografenhimmel.“
Jeremy sah sich um und hielt nach James Ausschau. Nebenbei begrüßte er hier und da ein paar der anderen Gäste. Ich war froh, nicht ganz allein hier zu sein, auch wir wenn zwei der Freunde, mit denen Jeremy gekommen war, bereits von unserem Picknick im Hyde Park kannten, fand ich es angenehmer mit Sam hier zu sein.
„James, darf ich dir Sady und Sam vorstellen?“ Neben Jeremy stand ein relativ kleiner, rothaariger Mann Ende dreißig. Die Geheimratsecken hatten sich bereits weit ausgebreitet, was er aber mit seinen kleinen Locken zu verdecken versuchte, aus seinen Augen blitze der Schalk. Ich mochte ihn auf Anhieb.
„Ah, die Lady, die Jeremy in einem Café aufgesammelt hat“, sagte er lächelnd.
„Genau die.“ James begrüßte mich als wären wir alte Bekannte.
„Und Sie, meine Dame?“ sagte er an Sam gewandt.
„Ich habe Sady in meiner Abstellkammer Asyl gewährt so lange sie hier in London weilt.“
„Ah, sehr freundlich von Ihnen!“ Das Eis war gebrochen. Wir stießen alle gemeinsam mit James auf die Vernissage an, bevor er zu den nächsten Gästen weiter zog.
Eine halbe Stunde später eröffnete James die Ausstellung mit einer Rede. Er erzählte, wie die Fotografie zu seiner Leidenschaft wurde, von den Reisen, die er mit seiner Kamera unternommen hatte, und ein paar Anekdoten zu einigen der Bilder, die hier ausgestellt waren. Dabei begrüßte er namentlich die ein oder anderen Gäste und verwies dann auf ein spezielles Bild. Es war schön zu sehen, wie gut die Bilder bereits jetzt ankamen. Nach der Rede wurden kleine Häppchen serviert und die Besucher verteilten sich in der Galerie um James’ Fotos anzusehen.
Ich stand vor einem Bild, das eine besondere Magie ausstrahlte. Es zeigte ein altes Ehepaar, das sich an den Händen hielt und herzlich lachte. Die Augen wurden von den vielen Falten beinah verschluckt. Sie strahlten so viel Zufriedenheit und Liebe aus, dass ich nicht wusste, ob ich mit ihnen lachen oder vor Rührung weinen sollte. Ich konnte mich kaum von dem Anblick dieser beiden Menschen, die schon so viel miteinander erlebt haben mussten, losreißen. Sie schienen sehr alt und sehr glücklich zu sein.
„Sarah und Joseph Parker“, James war neben mich getreten. „Sie leben im Dorf meiner Großeltern und waren schon alt als ich noch ein kleiner Junge war.“
„James, dieses Bild ist fantastisch! Ich habe das Gefühl, den beiden direkt gegenüber zu stehen und sie aus ihrem Leben erzählen zu hören. Von den Höhen und Tiefen, die sie gemeinsam erlebt haben. Die Liebe füreinander ist fast greifbar.“
James lächelte mich an. „Es freut mich, dass Ihnen das Bild gefällt.“
„Die Bilder sind alle toll. Wirklich! Es freut mich sehr, dass ich heute kommen durfte.“
„So reizende Gäste hat man gern.“
„Charmeur!“
„Sehen Sie sich nur weiter um, Sady, es gibt noch viele interessante Menschen zu entdecken.“ Wir blieben noch einen Moment bewundernd vor dem Bild stehen, bevor James sich zwei Paaren mittleren Alters zuwandte und ich zum nächsten Bild weiterging.
Eine halbe Stunde später strandete ich neben Sam vor einem großen Foto von einem kleinen Jungen, dem lachend eine dicke Träne über die Wange kullerte.
„Die Bilder sind wirklich beeindruckend. Es gibt nicht eins, bei dem ich mich nicht gefragt habe, was wohl die Geschichte dazu ist.“ Sam betrachtete den kleinen Jungen auf dem Foto. „Warum er wohl lacht, obwohl ihm die Tränen über das Gesicht laufen?“
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat er erst geweint und dann hat ihn jemand zum Lachen gebracht? Bei Kindern geht das ja schnell.“
„Mag sein. James sollte zu jedem Bild eine kleine Beschreibung machen. Oder einen Bildband herausbringen, wo zu jedem Foto die Geschichte erzählt wird. Das wäre sehr spannend, meinst du nicht?“ Sam sah mich fragend an.
„Die Idee mit dem Bildband finde ich gut. Solltest du ihm mal vorschlagen. Hier finde ich es ganz schön, dass man nur vermuten kann, was wohl der Anlass für das Foto war.“
Als wir zum nächsten Bild gingen, hielt Sam kurz inne.
„Ich hol mir noch ein Glas Prosecco. Magst du auch?“
„Ja, gern.“
Ich widmete mich wieder dem Bild. Diesmal stand ich vor einer jungen Frau, die abwesend ihren Blick in die Ferne schweifen ließ. Sie wirkte sowohl glücklich als auch traurig. Genau konnte man es nicht sagen. Während ich versuchte ihren Blick zu deuten, lauschte ich den Gesprächen um mich herum. Die einen sprachen über die Fotos, so wie Sam und ich eben, andere unterhielten sich über die Arbeit, Fotografie im Allgemeinen, erkundigten sich nach gemeinsamen Bekannten. Etwas ließ mich aufhorchen. Ich konnte mich nicht mehr auf das Foto vor mir konzentrieren. Ich drehte mich um und beobachtete die Menschen, die um mich herum standen. Es war ziemlich voll geworden im Laufe des Abends, doch nach und nach verließen die ersten wieder die Galerie. James verabschiedete an der Tür ein vornehm aussehendes Ehepaar. Seine Eltern möglicherweise. Irgendetwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt, das ich noch nicht greifen konnte. Ich wusste nicht, wonach ich Ausschau halten sollte.
„Was ist denn mit dir los? Du guckst ganz komisch.“ Sam war mit zwei Gläsern Prosecco zurückgekehrt und folgte meinem Blick.
„Alles okay. Irgend etwas hat mich grad abgelenkt, aber ich weiß nicht genau was.“
Kaum dass ich den Satz ausgesprochen hatte, wusste ich, was mich abgelenkt hatte. Ganz in meiner Nähe sprach jemand, den ich kannte. Ich drehte mich um und sah, dass Jeremy am anderen Ende des Raumes in einer Gruppe stand und sich unterhielt. Er konnte es also nicht gewesen sein. Und wieder hörte ich die Stimme. Sie war ganz weich und samtig. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag – das war die Stimme von meinem Anrufbeantworter! Das konnte nicht sein! Ich suchte mit Blicken den Raum ab, in der Hoffnung, herauszufinden, zu wem die Stimme gehörte.

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