Chapter 15

Ich hatte mich entschieden, zur Beerdigung von Toms Opa zu gehen. Früher fand ich es unmöglich, wenn alte Leute zu jeder zweiten Beerdigung im Dorf gegangen sind. Heute weiß ich, dass sie viele der Toten wirklich gekannt haben, sich verabschieden wollten und dabei selbst unweigerlich dem Ende immer näher kamen. Oder sie standen einem der Angehörigen nahe und zeigten damit ihre Anteilnahme.
Die Beerdigung fand 15 Uhr auf dem Ohlsdorfer Friedhof statt. Jasmin und ich hatten uns den halben Tag frei genommen und wollten gemeinsam zu der Trauerfeier gehen. Ich stand im Flur vor dem großen Spiegel. Ich hatte mir ein schwarzes Kleid angezogen und schwarze Pumps dazu. Bis zu dem Zeitpunkt als mein Opa vor fast zehn Jahren gestorben war, hatte ich sehr oft schwarz getragen. Als aber meine ganze Familie fast nur noch dunkel gekleidet war, hatte ich das Gefühl von dieser Farbe erdrückt zu werden. Ich bekam keine Luft mehr, wenn ich mich in der Trauer einhüllen musste. Ich verbannte fast alle schwarzen und grauen Kleidungsstücke in die hinterste Ecke meines Schranks. Die neue Bluse, die ich zur Beerdigung das erste Mal getragen hatte, trug ich nie wieder. Es hatte lange gedauert, bis ich schwarz wieder als modisch empfand. Ein seltsamer Beigeschmack war jedoch geblieben.

Gegen zwei stand ich bei Jasmin vor der Tür. Wir hatten noch ausreichend Zeit. Der Friedhof war aber sehr groß und wir waren noch nie dort gewesen. Wir wollten auf keinen Fall zu spät kommen, weil wir uns verirrt und den Weg nicht rechtzeitig gefunden hatten. Auch Jasmin trug ein schwarzes Kleid. Es stand ihr sehr gut. An der Taille verlief ein schmales Samtband, das am Rücken geknotet war, am Ausschnitt waren ein paar kleine schwarze Blüten aufgenäht. Wäre der Anlass nicht so traurig gewesen, hätte ich sie um dieses tolle Kleid beneidet.
Wir fuhren mit dem Auto zum Friedhof, suchten uns einen Parkplatz und machten uns auf die Suche. Es war nicht nur ein Friedhof sondern ein riesiger Park – ein wunderschöner Park. Die Sonne lachte von einem tiefblauen Himmel, das Grün der Bäume leuchtet und Bienen schwirrten von Blüte zu Blüte. Ich wurde von einer seltenen Ruhe erfasst. Die Hektik des Alltags verblasste. Beinahe vergaß ich den Anlass für meinen Besuch in dieser Oase. Wenn es so etwas gab, dann war hier der perfekte Ort um einen geliebten Menschen zur letzten Ruhe zu betten.
Nach fünfzehn Minuten hatten wir die Kapelle gefunden, in der die Trauerfeier stattfinden sollte. Es hatte sich bereits eine kleine schwarze Menschentraube davor versammelt. Soweit ich sehen konnte, war Tom nicht dabei, ich ging also davon aus, dass seine Familie noch nicht angekommen war. Jasmin und ich stellten uns ein Stück abseits der Trauergemeinde. Ich wünschte es wäre bereits vorbei. Wir redeten kaum miteinander und grüßten weitere ankommende Trauergäste mit einem kleinen Nicken.
Kurz vor drei war eine beachtliche Anzahl von jungen und alten Leuten auf dem Friedhof versammelt. Alle hatten Toms Opa auf irgendeine Weise gekannt, hatten mit ihm gearbeitet, gelacht, gefeiert, waren gemeinsamen Hobbies nachgegangen. Man kannte sich bereits aus Kindertagen oder über einen Verein oder stand einem Angehörigen auf die ein oder andere Weise nahe.
Plötzlich senkte sich Stille über die Gruppe. Tom und seine Familie waren eingetroffen. Er stützte seine Oma, die, um Fassung bemüht, neben ihrem Enkel auf die Kapelle zuging um ihrem Mann das letzte Geleit zu erweisen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie schwer dieser Gang für sie sein mochte. Viele Jahrzehnte hatten sie miteinander verbracht, gemeinsam gelacht und geweint. Jetzt war diese Reise beendet und ihr blieb nichts anderes übrig als sich zu verabschieden und allein weiter zu ziehen. Ihr Arm war bei Tom eingehänkelt, der liebevoll und Kraft spendend ihre Hand hielt. Auf seinem Gesicht spiegelte sich tiefe Traurigkeit, doch seine Augen verrieten, dass er sich sorgte – um seine Oma und auch seine Mutter, die ihren geliebten Vater verloren hatte. Als Tom uns sah, huschte ein ganz leichtes Lächeln über sein Gesicht. Er hatte wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass jemand aus der Agentur kommen würde. Wir konnten ihm nicht wirklich helfen, aber wir wollten ihm zeigen, dass wir in dieser schweren Stunde an ihn dachten.
Es bildete sich ein Gang zwischen der Trauergemeinde, so dass die Familie zur Tür der Kapelle gehen konnte, an der bereits der Pfarrer auf sie wartete. Links und rechts des Ganges nickten die Bekannten und Freunde der Familie zu und murmelten leise Beileidsbekundungen. Beim Pfarrer angekommen reichte dieser erst der Oma die Hände, dann dem Rest der Familie und geleitete sie in das Innere der Kapelle hinein, wo der geschlossene Sarg aufgebahrt war. Ein Schluchzen drang nach draußen an den sommerlichen Tag. Niemand sagte mehr ein Wort. Kurze Zeit später wurde die Flügeltür geöffnet und die Trauergemeinde folgte der Familie in die Kapelle. Wir stellten uns in die letzte Reihe, da keine Plätze mehr frei waren. Es waren so viele Menschen gekommen, dass einige in der Tür und vor der Kapelle stehen mussten. Hier und da murmelten die Leute miteinander, ab und an vernahm man ein leises Schniefen. Ich ließ meinen Blick über die Köpfe der Anwesenden schweifen, bis ich ganz vorn direkt vor dem Sarg Tom uns seine Familie ausmachen konnte. Erst jetzt fiel mir auf, dass Bee nicht dabei war. Ich suchte die Menge ab, konnte ihre roten Haare aber nirgends entdecken. Wie konnte das sein? Ich sah Jasmin an.
„Sag mal“, flüsterte ich, „weißt du wo Bee ist?“
„Ist sie denn nicht hier?“ flüsterte Jasmin zurück und sah nun auch suchend auf die Menschenmenge.
„Ich kann sie auch nicht sehen. Das ist ja merkwürdig.“ Wir sahen uns verwirrt an. Aber bevor wir uns weitere Gedanken machen konnte, setzte leise Musik ein und der Pfarrer schritt an sein Podest.
„Liebe Frau Bergmann, wehrte Angehörige, wehrte Trauergemeinde. Wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Paul Herrmann Bergmann.“ Der Pfarrer hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Sie hatte etwas beruhigendes, über allen Kummer erhabenes. Man glaubte ihm, dass er schon viel Leid gesehen und erlebt hatte und der Trost, den er zu spenden versuchte, ehrlich war. Er berichtete über das ereignisreiche Leben von Toms Opa, seiner Zeit im Krieg, wie die Familie wieder zueinander fand, in frühen Jahren ein Kind starb – Toms Onkel – und wie er für seine Familie zum Fels in der Brandung wurde, bis er am Ende seiner Reise angekommen und nun zum Herrn heimgekehrt war. Die Rede war sehr einfühlsam. Aber selbst mir, die mit Paul Bergmann eigentlich nichts verband außer der Freundschaft zu seinem Enkel, kamen die Tränen. Ich fühlte mit der Familie, die diesen Schmerz erleiden musste.
Die Trauergemeinde erhob sich und sprach ein abschließendes Gebet. Wieder erklang leise Musik. Vier Sargträger traten an den Sarg heran, räumten Kerzen und Kränze beiseite und hoben den Sarg an. Langsam verließen sie die Kapelle, gefolgt von der Familie des Verstorbenen, den Freunden und Bekannten. Wir gingen langsam durch den sommerlich leuchtenden Park zur Grabstelle. Dort richtete der Pfarrer noch einmal ein paar Worte an die Trauergemeinde. Danach wurde der Sarg in die Erde hinabgelassen. Toms Oma schluchzte laut auf. Er stützte sie, half ihr, einen Strauß Rosen auf den Sarg zu werfen und nahm sie in den Arm. Er selbst verabschiedete sich mit einer weißen Rose. Tränen liefen über sein Gesicht. Tom geleitete seine Oma an eine Stelle etwas seitlich vom Grab, wo ein Stuhl für sie bereit stand. Auch für Toms Mutter war dieser letzte Abschied schwer. Nach und nach verabschiedeten sich alle Anwesenden am Grab und bekundeten der Familie ihr Beileid. Auch Jasmin und ich ließen eine kleine Rose auf den Sarg fallen und gingen dann kurz zur Familie Bergmann. Toms Oma bemerkte kaum, dass man ihr die Hand gab. Sie schien ganz verloren in ihrer Trauer. Ich umarmte Tom kurz. Es bedurfte keiner Worte. Was sollte man auch sagen? Danach machten Jasmin und ich uns auf den Heimweg. Wir schlenderten durch den Park, ohne viel miteinander zu reden, ganz in Gedanken versunken.
„Was hältst du davon, wenn wir noch irgendwo in ein Café fahren und ein bisschen die Sonne genießen? Mir ist so kalt jetzt.“ Jasmin sah mich fragend an.
„Gute Idee.“
Wir stellten mein Auto bei ihr in der Straße ab und gingen in ein kleines Café in der Nähe. Wir hatten Glück und ergatterten einen Tisch in der Sonne, von dem gerade ein verliebtes Pärchen aufgestanden war. Wir waren beide froh, dass wir nur kurze Zeit Teil dieser Trauergemeinde waren und nun wieder Licht in unsere Seele fließen lassen konnten.

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